Dienstag, Januar 31, 2006

Rheinnot

Wie liegt die Nacht so schwer überm Tal,
so feucht und so frostig überall
Kein Sternlein grüsset mit seinem Schein
die wildschwarzen Wogen im rauschenden Rhein.

Sie grollen und rollen auf kiesigem Grund;
sie wachsen wehkündend von Stund zu Stund.
Auf zittrigem Damme, in dunkler Nacht,
mein Vater steht draussen auf der Wasserwacht.

Die nahende Not verkünden vom Turm
die heulenden Glocken; sie läuten Sturm.
Sie läuten so traurig, talauf und talab,
den Sommersegen ins nasse Grab.

Wohl schaffen schaufelnd beim Fackelschein
die Männer und Frauen in stummen Reih’n.
Wohl tragen sie Rasen und Erde herbei;
Die Wellen spotten: „Der Jungstrom ist frei!“

Sie lecken mit zorniger Zunge am Damm;
sieh da! – hochgehender Wogenkamm
stürzt über! – Die sandige Wehre weicht;
ein Wehruf über die Wasser streicht. –

Sie kommen, sie kommen so hoch, so voll;
sie beugen die Saaten in wildem Groll.
Indes das Sturmgeläute verklingt,
die gurgelnde Flut in die Häuser dringt.

Und über den Wassern, Irrlichtern gleich,
da leuchten Laternen den Männern so bleich.
Die flüchten aus überflutetem Stall
das brüllende Vieh aus dem Wogenschwall.

Und oben im Hause, dass Gott erbarm,
sitzt zitternd die Mutter, das Kleinste im Arm.
Sie hat die lange, die traurige Nacht
Mit schwerem und bangendem Herzen durchwacht.

Nun hebt der Morgen den Schleier hinweg,
verschwunden sind Garten, Strasse und Steg.
Die Kronen der Bäume nur zeigen die Spur
Der untergegangenen Segensflur.

Da horch! Wie tröstlicher Engelsang
ruft über die Fluten der fromme Klang
der Morgenglocke ins Kämmerlein:
„Die Liebe ist stärker als unser Rhein!“


Gedicht von Johannes Brassel, St. Margrethen (1848-1916)

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